Es ist ein kühler, trüber Septembermorgen. Prof. Dr. Sarahi Garcia schließt das Fenster und legt sich eine blaue Decke über die Beine. Die Mikrobiologin empfängt in ihrem Büro an der Universität Oldenburg. Weiße Wände, Schreibtisch, ein blaues Sofa; der Blick aus dem Fenster fällt auf das unscheinbare Nachbargebäude. “Eigentlich habe ich ja Urlaub”, sagt sie zwinkernd und beschreibt ihre eigenwillige Auslegung der Erholungszeit, den ‘Urlaub Sarahi-Style’: “Ich arbeite bis mittags und gehe dann für zwei bis drei Stunden zum Sport, bevor ich die Kinder abhole.”
Schon als Jugendliche war sie leidenschaftliche Turnerin. Die Mexikanerin mit den schwarzen Locken, die über der rechten Schläfe kurz rasiert sind, verdiente zeitweise ihren Lebensunterhalt als Trainerin. Später wurde sie Kampfrichterin. “Ich hatte den Ruf, besonders gerecht zu urteilen”, erzählt sie. Noch während sie in Nordmexiko Bioverfahrenstechnik studierte, wurde Garcia gefragt, ob sie Richterin bei nationalen Wettkämpfen sein wolle. Stattdessen entschied sich die damals 20-Jährige für die Karriere als Wissenschaftlerin. Ein Master-Abschluss und anschließend eine Doktorarbeit boten ihr spannende Perspektiven. “Als Kampfrichterin hätte ich mich dagegen kaum weiterentwickeln können”, sagt sie. “Ich hab mich nicht so sehr für die Wissenschaft entschieden, als vielmehr für die Herausforderung.”
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Mehr InformationenDiversity – Was wir von Bakterien lernen können: Sarahi Garcia im Videoportrait
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Interaktionen im Blick
2008 zog sie nach Georgia in die USA. Ihr Flugticket bezahlte ein Mentor, der das Potential der jungen Frau aus einfachen Verhältnissen erkannt hatte und sie zu dem Schritt ermutigte. Eine Bitte gab er ihr mit auf den Weg: Die Unterstützung, die er ihr zukommen ließ, an andere weiterzugeben. Sie dachte, sie würde zurückkommen; eines Tages, vielleicht als Lehrerin. “In die USA bin ich mit einem einzigen Koffer geflogen”, erinnert sich Garcia. Darin: ihre blauen Lieblingsdecke. “Die hatte sogar einen Spitznamen: Azul Imenso – die Große Blaue.” Die Große Blaue blieb während Garcias zahlreicher Umzüge rund um den Globus irgendwo auf der Strecke. Blaue Decken liebt sie bis heute.
Im Masterstudiengang an der Universität von Georgia arbeitete sie daran, Treibstoffe aus Karottenabfall zu gewinnen. “Dafür braucht es Mikroben”, sagt Garcia, “in erster Linie Bakterien. Ihre Interaktionen traten ganz neu in meinen Blick.” Der jungen Forscherin wurde klar, dass Pflanzen und Tiere nur einen winzigen Teil der Biodiversität auf der Erde ausmachen. “Auf jedem Blatt, in jedem Tropfen Meerwasser finden sich unzählige Mikroorganismen”, beschreibt sie. “In Georgia habe ich angefangen, mich in ihre Interaktionen zu vertiefen.”
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Garcia (r.) und ihre Forschungsgruppe untersucht vor allem Bakterien in Gewässern mit einem Schwerpunkt auf dem Kohlenstoffkreislauf und der Frage, wie die Vielfalt der Bakterien in der aquatischen Umgebung interagiert und zusammenarbeitet.
Aus Vielfalt entsteht Resilienz
Dieses Interesse motivierte sie zu ihrer Doktorarbeit in Jena und später zur Forschung in den USA und Schweden. Gegen alle Zweifel, die ihr immer wieder kamen, ob eine mexikanische Frau aus einfachen Verhältnissen in der Wissenschaft überhaupt einen Platz habe, arbeitete sie sich Stück für Stück voran. Mittlerweile entwickelt sie mit ihren Forschungspartner:innen eine eigene Theorie der Funktion mikrobieller Artengemeinschaften, die sie als Kohorten bezeichnet. “Wir denken viel zu simplistisch über Diversität nach”, mahnt sie. Das liege auch daran, dass man im Labor üblicherweise einzelne Arten von Bakterien in Isolation und unter stark vereinfachten Bedingungen beobachte. “Dabei herrscht in der Natur enorme Komplexität.”
Für sich allein könnten viele Bakterien oder Bakterienarten nicht überleben, erklärt Garcia. “Erst in der Kohorte komplementieren sie sich gegenseitig, und zwar auf der Ebene von Grundbedürfnissen.” Durch Vielfalt und Interaktion entsteht Resilienz einer Gemeinschaft. Garcia liebt es, in solchen Zusammenhängen zu denken. Und sie zieht Parallelen, etwa zwischen mikrobiellen und menschlichen Gemeinschaften. Immer wieder möchte sie ihre Betrachtungen um andere Perspektiven erweitern. “Wie spannend wäre es, mit Philosoph:innen und Künstler:innen die Zusammenhänge von Vielfalt und Resilienz in Gesellschaften zu explorieren!”
Verrückt? Oder innovativ?
Um im Labor Einblicke in die Welt der mikrobiellen Interaktionen zu erhalten, kultivieren Garcia und ihre Mitarbeitenden Bakterien aus natürlichen Gewässern. “Wir generieren Zufallsmischungen verschiedener Arten und sehen, welche davon miteinander gedeihen”, erklärt sie. Ihre Methode steht im krassen Gegensatz zum üblichen Vorgehen, einzelne Arten im Labor unter standardisierten Bedingungen zu beobachten. Da jedes von Garcias Fläschchen eine einzigartige Mischung von Arten enthält, lassen sich die Versuche nicht eins zu eins wiederholen. Das widerspricht der wissenschaftlichen Forderung nach Replizierbarkeit von Studien. “Manche Kolleg:innen halten unser Vorgehen deshalb für verrückt”, sagt sie schmunzelnd, “andere für besonders innovativ.”
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Diversität statt Reinkultur: In der Natur leben Mikroorganismen nicht wirklich für sich allein. Deshalb betrachten Garcia und ihr Team verschiedene Mikroorganismen zusammen in sogenannten Modellgemeinschaften. So versuchen sie beispielsweise zu verstehen, welche Arten lebenswichtige Vitamine oder Nährstoffe für ihre Gemeinschaft bereitstellen.
Von erfolgreichen Bakteriengemeinschaften analysieren Garcia und ihre Mitarbeitenden zum einen das Erbgut und zum anderen deren Stoffwechselprodukte. So versuchen sie beispielsweise zu verstehen, welche Arten lebenswichtige Vitamine oder Nährstoffe für ihre Gemeinschaft bereitstellen. Allerdings sind die Resultate, die ihre Analysen ergeben, so heterogen wie die untersuchten Bakterienmischungen. “Die Interpretation der genetischen Sequenzen zusammen mit den Molekülen, die produziert und konsumiert werden, ist eine Herausforderung”, sagt Garcia. Für die Forschungswelt ist ihr Vorgehen also in mehrerer Hinsicht ungewöhnlich. Vielleicht gerade deshalb fand sie sich kürzlich auf dem Titelbild einer renommierten Fachzeitschrift, das verschiedene Ansätze der modernen Mikrobiologie illustrierte.
Zwischen Wissenschaft und Religion
Als Mikrobiologin nimmt Garcia fundamentale Prozesse unter die Lupe, die das Leben auf der Erde bestimmen. “Erst durch ihre Interaktionen haben Bakterien unseren Planeten überhaupt für höhere Lebewesen bewohnbar gemacht”, erklärt sie. “Über diese Anfänge des Lebens nachzudenken, fasziniert mich.” Das Nachdenken und Gespräche mit Kolleg:innen haben Garcia sogar neue Zugänge zur Religion eröffnet. “Für mich bedeutet Religion den Pfad zur Meditation, um zu erkunden, was jenseits des Erforschbaren liegt.” Heute kann sie ihre wissenschaftliche und ihre spirituelle Sicht gut miteinander vereinbaren. Doch das war nicht immer so. Geprägt vom streng christlichen Umfeld ihrer Kindheit, wollte sie lange selbst Missionarin werden. Als ihr dann im Laufe des Studiums Zweifel kamen, traf sie auf Unverständnis; Freundschaften und familiäre Bande zerbrachen. “Zu der Zeit eröffnete mir die Wissenschaft neue Perspektiven”, sagt sie.
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Ob Diversität oder mentale Gesundheit, auch Belange abseits der reinen Forschung sind für Sarahi Garcia von großer Bedeutung. Diesen versucht sie im Rahmen ihrer Forschungsgruppe und der Lehre entsprechend Raum zu geben. "Ich möchte junge Menschen auf ihrem Weg begleiten, sie inspirieren und ihnen die Mittel an die Hand geben, um wirklich durchzustarten und eine bessere Zukunft aufzubauen", so Garcia.
Sport als Empowerment
Mit der Laufbahn in der akademischen Arbeitswelt nahm Garcia allerdings auch die Bürde der vielfachen Ortswechsel auf sich. Nach dem Master zog sie von Georgia nach Jena, von dort für eine Postdocstelle wieder in die USA. 2014 kam sie nach Schweden. Hier wuchs in ihr das Gefühl, ein zu Hause gefunden zu haben. Länger als an jedem anderen Ort lebte sie in Uppsala, ein Fellowship des nationalen SciLifeLabs brachte sie nach Stockholm. In Schweden kamen ihre Kinder zu Welt. Und hier entdeckte sie, nach einer Episode schwerer Depressionen, die Luftakrobatik für sich. Auf ihrem Instagram-Kanal postet sie regelmäßig Fotos und Videos von ihren akrobatischen Moves an farbigen Tüchern oder Ringen, die von der Decke hängen. “Dieser Sport ist ein tolles Empowerment, besonders für Frauen”, findet Garcia, die bald anfing, andere zu trainieren. Und auch außerhalb des Sports macht sie sich stark für Belange der mentalen Gesundheit – ein heikles Thema gerade in der akademischen Arbeitswelt, die Menschen viel abverlangt.
Eine Heimat für Sarahi Garcia?
Und doch verabschiedete sie sich wieder von ihrer zeitweisen Wahlheimat. “Die Entscheidung war schwer. Aber beruflich macht sie Sinn”, meint Garcia. “Hier am Institut für Chemie und Biologie des Meeres kann ich meine Forschung auf einer unbefristeten Professur weiter voranbringen.” Nach Mexiko zurückzukehren, wie sie es vorhatte, ist inzwischen keine Option mehr. Gleichzeitig schmerzt es sie sehr, Teil des Brain-Drains ihres Geburtslandes zu sein. “Das wollte ich nie.”
Nach einem Jahr in Oldenburg kann sie aber sagen: Die Familie ist gut angekommen. Ein Sportverein hat sogar extra Vertikaltücher installiert, an dem Garcia sonntagvormittags Luftakrobatik unterrichtet. Kann die Stadt in Norddeutschland nun eine Heimat werden für Sarahi Garcia – mexikanische beinahe-Missionarin, weltgereiste Mikrobiologin und Luftakrobatin? “Ich habe aufgehört, meine Heimat an einem Ort zu suchen.” Früher bot eine blaue Decke der heimwehkranken Studentin ein Stück zu Hause. “Heute möchte ich meine Heimat in dem finden, was ich tue. Ich möchte einen Unterschied machen im Leben anderer Menschen.” Der Bitte ihres früheren Mentors entsprechend, seine Unterstützung weiterzugeben, steht sie ihren Masterstudierenden und Doktorand:innen als Mentorin zur Seite. “Ich möchte ihnen ein Vorbild geben, damit sie Selbstliebe und Selbstvertrauen finden, um das zu verfolgen, was sie erreichen wollen.”