Unzählige verwackelte Videos, aufgenommen in einer Höhe von vielleicht 80 cm über dem Fußboden, dokumentieren das Familienleben von Prof. Dr. Manuel Bohn. Man sieht – quasi durch die Augen eines Kleinkinds –, wie es von einem Zimmer der Wohnung ins andere rennt, mal die Mama sieht, mal den Papa mit dem Baby auf dem Arm. Mal wackelt es mit einem Bilderbuch in den Händen los, mal beschäftigt es sich mit seinem Spielzeug. Keine klassischen Erinnerungsfilmchen, sondern echter, ungefilterter Familienalltag.
Dass Bohn den ungefilterten verwackelten Alltag seiner Familie dokumentiert, hat einen Grund: Er ist eben nicht nur Vater von drei Kindern, heute im Alter von sieben, fünf und drei Jahren, sondern auch leidenschaftlicher Entwicklungspsychologe, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Zusammenhang zwischen Alltagserfahrung und Kommunikationsfähigkeit zu erforschen – über kulturelle Grenzen hinweg. “Da müssen dann die eigenen Kinder schonmal zur Methodenentwicklung herhalten”, sagt er grinsend.
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Mehr InformationenEntwicklungspsychologie global betrachtet: Manuel Bohn im Videoportrait
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Bohn ist ein Methodentüftler. Einer, der versucht, die psychologische Entwicklung greifbarer zu machen: harte Daten und Fakten statt Vermutungen und schwer belegbare Theorien. Scheinbar nie zufrieden mit dem, was wissenschaftlich gerade machbar erscheint, sucht er nach Wegen, um herauszufinden, was typisch menschlich ist – und welche Annahmen vielleicht nur für bestimmte Kulturkreise funktionieren. Denn wer generelle Aussagen treffen will, muss seinen Blick weiten, über den eigenen Kulturkreis und künstliche Versuchsanordnungen hinaus. “Wenn wir wollen, dass die Entwicklungspsychologie wissenschaftlich relevant bleibt, müssen wir sie auf ein stabileres Fundament stellen”, so Bohn.
Weiter Weg zur passenden Fachrichtung
Vorgezeichnet war dieser Karriereweg nicht. Bohns jüngeres Ich würde sich wahrscheinlich sogar sehr über seinen beruflichen Werdegang wundern, wurde sein Interesse an der Entwicklungspsychologie doch eher spät geweckt. “Geschichte hat mich als Kind brennend interessiert, vor allem die Antike”, erzählt er. Schon in der Grundschule, sobald er lesen konnte, begann er griechische Sagen zu verschlingen. Später kam mittelalterliche Geschichte als Interessenschwerpunkt hinzu.
Ganz losgelassen hat ihn dieses Interessensgebiet bis heute nicht. Auch heute noch schlägt er gerne ein Buch zu einem geschichtlichen Thema auf, wenn Zeit dafür bleibt. Etwa auf einer Zugfahrt zwischen Leipzig, wo er mit seiner Familie lebt, und Lüneburg, wo Bohn heute eine Niedersachsen-Impuls-Professur an der Leuphana Universität innehat.
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Seit 2024 leitet Bohn den Arbeitsbereich Entwicklungspsychologie am Institute of Psychology in Education der Leuhpana Universität Lüneburg.
“Vielleicht hatte ich einfach nicht den Mut, Historiker zu werden”, sagt er. “Ich glaube das erschien mir einfach ein bisschen zu brotlos.” Nach der Schulzeit strömten zudem neue Einflüsse und Inspirationen auf ihn ein. Der Zivildienst in der Psychiatrie zum Beispiel. Begegnungen und der Austausch mit anderen Reisenden, als er als junger Mann für sechs Monate um die Welt reiste. Philosophische Bücher, die er in der Zeit las. Aber auch die Erfahrung, vom bisherigen sozialen Umfeld abgeschnitten zu sein. “Da kann man sich schonmal verloren fühlen, obwohl man eigentlich nie alleine ist”, erinnert er sich. “Das hat für mich die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, wie wichtig das soziale Umfeld ist. Und auf die große Frage, wie uns das Umfeld zu den Menschen macht, die wir sind.”
Von Wien über New York nach Leipzig
Bohn entschloss sich schließlich, Psychologie zu studieren und seiner Freundin – mittlerweile seine Ehefrau – nach Wien zu folgen. “Vielleicht war es mein Glück, dass die Psychologie damals in Wien sehr methodisch ausgerichtet war”, sagt Bohn. Die Forschenden dort suchten nach Mitteln und Wegen, die menschliche Psyche, nicht sichtbare geistige Zustände, mithilfe robuster Verfahren greifbar zu machen. “Das fand ich cool und sehr inspirierend.”
Für Entwicklungspsychologie konnte er sich dagegen so gar nicht erwärmen. “Das war für mich im Studium das langweiligste Fach überhaupt, ein uninspiriertes Aneinanderreihen verschiedener Stadien”, sagt der Wissenschaftler und muss über sich selbst lachen.
Dafür begann er sich für den evolutionären Blick auf die Psychologie zu interessieren und die große Frage, was uns Menschen ausmacht. Doch wie sollte man sich diesen Fragen nähern? Bohn wagte im Rahmen eines Auslandssemesters in New York einen Ausflug in die Neurowissenschaft. Aber auch da fand er nicht die Antworten, die er suchte. “Ich dachte mir damals: Letztlich misst auch ein Hirnscan nur Gehirnaktivität – erfasst aber nicht das, was im Gehirn eigentlich vor sich geht.”
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Das Ziel von Bohns aktueller Forschung ist nicht, neue Theorien aufzustellen. "Davon haben wir genug. Wir können endlich überprüfen, welche der bestehenden Theorien überhaupt haltbar sind und welche nicht."
Ziemlich frustriert sei er gewesen, als er damals, in seinem kleinen New Yorker WG-Zimmer, in die Suchmaschine seines Computers die Begriffe “Evolutionäre Psychologie” und “Deutschland” eingab. Dann ein Treffer: das Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. “Ich war sofort fasziniert davon, dass die dort wirklich psychologische Forschung mit Affen machen. Das war mir im Studium so nicht begegnet”, sagt Bohn. Hier war er also, der Versuch, den Menschen mit seinen Eigenschaften anhand von spielerischen Beobachtungsstudien in einen evolutionären Kontext zu setzen. “Wenn wir davon ausgehen, dass der letzte gemeinsame Vorfahr von Affen und Menschen den heute lebenden Affen irgendwie ähnelt, dann können wir durch vergleichende Forschung abschätzen, was uns einzigartig macht.”
Bohn bewarb sich für ein Praktikum und durchlief dann mit Diplom- und Doktorarbeit die, wie er sagt, typische Karriere am Institut. Unter anderem beschäftigte er sich in seiner Leipziger Zeit mit Gestik als Teil der nonverbalen menschlichen Kommunikation – einer Fragestellung, in der sich deutlich zeigen sollte, wie wichtig es ist, vergleichende Forschung zwischen unterschiedlichen Spezies zu betreiben – um Grenze ziehen zu können, was typisch menschlich ist und was vielleicht nicht.
Kommunikation per Gesten “typisch menschlich”
So zeigte sich im Versuch: Wenn zwei Menschenkinder im Videocall ohne Ton miteinander im Kontakt sind, beginnen sie sehr schnell anhand von Gesten zu kommunizieren. Sie imitieren einander und entwickeln eine Art gemeinsame Zeichensprache. Bereits Kinder im Alter von zwei bis drei Jahren sind in der Lage, aufgrund von Gesten zu verstehen, wie sie beispielsweise eine Apparatur bedienen sollen. “Affen können das nicht – zumindest nicht in meinen Studien. Egal was ich gemacht habe, sie haben die ikonischen Gesten weitestgehend ignoriert.”
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Bohn und sein Team haben für ihre Studie bunte Westen konzipiert, in denen eine Kamera eingearbeitet ist. Sie filmt den Alltag der Kinder aus ihrer Perspektive, eine Künstliche Intelligenz hilft beim Auswerten der Daten.
Diese Art der Kommunikation ist demnach typisch menschlich. Warum Menschen das können und Affen nicht – dieser Frage nachzugehen, überlässt Bohn lieber anderen. Das ist ihm zu spekulativ. Für ihn stellte sich vielmehr eine andere Überlegung: Wie lernen wir Menschen das? Wir kommen ja nicht auf die Welt und können bereits sprechen oder mithilfe von Gesten kommunizieren. “Da kommt dann die Entwicklungspsychologie ins Spiel, die ich als Student so langweilig fand”, sagt er mit einer guten Portion Selbstironie.
Theorien dazu, wie Spracherwerb funktioniert, gibt es viele. Eine gängige: Sprachentwicklung braucht direkte Interaktion zwischen Eltern und Kind, also Kommunikation von Angesicht zu Angesicht, etwa, wenn Eltern Dinge zeigen und sie benennen. Qualität und Quantität dieser Interaktion bestimmt demnach, wie gut die Sprachentwicklung läuft. Das klingt schlüssig. Aber lässt sich das wirklich generalisieren? “Nicht überall auf der Welt machen die Eltern das so wie wir, und die Kinder lernen trotzdem zu sprechen und zu kommunizieren”, sagt der Wissenschaftler.
Leipzig oder Cambridge nicht repräsentativ für die Welt
Manuel Bohn wäre nicht Manuel Bohn, wenn es nicht genau an dieser – scheinbar trivialen – Stelle zu graben beginnen würde. “Wenn man davon ausgeht, dass die Entwicklung von Kindern von Alltagserfahrungen abhängt, ist es erschreckend, wie wenig wir tatsächlich über diesen Alltag und die Erfahrungen von Kindern mit ihrer Umwelt wissen.” Studien, die auf Fragebogen basieren oder auf kurzen Beobachtungssequenzen im Labor, spiegeln die Lebens- und Erfahrungswelt der Kinder nur limitiert wider. “Das Problem ist außerdem, dass die Stichprobe sehr eingeschränkt ist”, sagt Bohn. “Was wir bei Kindern in Leipzig, Lüneburg oder Cambridge beobachten, ist eben nicht repräsentativ für die Welt.”
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Innerhalb der Studie wird der Alltag von jeweils 150 Kindern im Alter zwischen drei und fünf Jahren in Deutschland, Kenia und der Türkei auf Video aufgenommen. Sie werden über zwei Jahre begleitet.
Wie also lassen sich Daten aus einem realistischen Alltag von Kindern erheben – über kulturelle Grenzen hinweg? Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen entwickelte Bohn Westen mit eingebauter Kamera, die Kindern wie ein normales Kleidungsstück tragen können. So lässt sich – ganz nebenbei – ihr tatsächlicher Alltag erfassen. “An diese Stelle sind dann meine eigenen Kinder ins Spiel gekommen, die ich zur Methodenentwicklung mit den Westen ausgestattet habe”, sagt Bohn. Anhand der Filme trainiert er mit seinem Team Computer darauf, die Videos auszuwerten und mit Hilfe Künstlicher Intelligenz beispielsweise zu erfassen, wie viele Gesichter das Kind in seinem Alltag tatsächlich sieht. “Das ist ziemlich herausforderndes Material, denn die Videos sind nicht nur lang, sondern auch verwackelt und die Kinder ändern ständig ihre Richtung.”
Internationale Studie für bessere Datengrundlage
Bereits bei der Methodenentwicklung ist Bohn sehr international vorgegangen und hat die Westen gemeinsam mit Kooperationspartnern weltweit erprobt. “Im Rahmen der Niedersachsen-Impuls-Professur können wir jetzt anfangen, diese Methode in einer groß angelegten internationalen Studie anzuwenden und Daten sammeln, die realistische Alltagserfahrungen von Kindern repräsentieren – über kulturelle Grenzen hinweg”, sagt Bohn.
“Das ist eine riesige Aufgabe und eine ebenso große Chance!” Das Ziel ist jedoch nicht, neue Theorien aufzustellen. “Davon haben wir genug. Wir können endlich überprüfen, welche der bestehenden Theorien überhaupt haltbar sind und welche nicht”, so Bohn. “Ich denke, damit können wir eine Menge dazu beitragen, die Entwicklungspsychologie auf ein neues, solides Fundament zu stellen, um ihr eine größere wissenschaftliche Relevanz zu geben. Auch dann, wenn es darum geht, politische Entscheidungen zu treffen.”