Das Land Niedersachsen und die VolkswagenStiftung fördern im Rahmen des Programms zukunft.niedersachsen sieben Forschungsprojekte in der Gender- und Diversitätsmedizin mit insgesamt rund neun Millionen Euro. Ziel dieser medizinischen Fachrichtungen ist es, eine bessere Gesundheitsversorgung für alle zu erreichen, indem biologische, soziale und kulturelle Unterschiede wie beispielsweise Alter oder Geschlecht stärker in der Diagnose, Therapie und Medikation von Krankheiten berücksichtigt werden.
Akute Brustschmerzen, ausstrahlend in den linken Arm und Atemnot – die klassischen Symptome eines Herzinfarkts erkennen auch viele Laien. Dieser Verlauf ist aber nur für Männer typisch. Sie gelten in vielen medizinischen Lehrbüchern noch immer als “Normalfall”. Frauen und intergeschlechtliche Menschen hingegen zeigen bei vielen Erkrankungen andere, vermeintlich atypische Symptome. Auch Faktoren wie Statur oder kultureller Hintergrund können die medizinischen Bedürfnisse beeinflussen.
Die geförderten Projekte rücken insbesondere sozialmedizinische Aspekte in den Fokus, die durch die zunehmende Verbreitung personalisierter Medizin immer relevanter werden. Mit maßgeschneiderten Handlungsempfehlungen sollen sie dazu beitragen, die Gesundheitsversorgung in Niedersachsen nachhaltig zu verbessern.
Die geförderten Projekte im Überblick
Forschende der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) erhalten für ihr Projekt “INDICA: Intersectional Vulnerabilities in Diabetes Health Care: Identifying and Addressing Health Disparities in Lower Saxony” eine Fördersumme von 635.950 Euro. In dem Projekt untersuchen sie anhand der Typ-2-Diabetes, wie Gender- und Diversitätsaspekte (z. B. höheres Diabetes-Risiko bei Männern, Menschen mit Migrationshintergrund oder niedrigem Einkommen) besser in strukturierte Behandlungsprogramme einfließen können. Sie analysieren auch, welche Ungleichheiten entstehen, wenn diese Programme nicht genutzt werden. Mit einer verbesserten Datenbasis wollen sie Maßnahmen entwickeln, um die Nutzung dieser Programme zu erhöhen.
Wissenschaftler:innen der MHH und der Leibniz Universität Hannover wollen herausfinden, welche Hürden Menschen mit Migrationshintergrund beim Zugang zu Gesundheitsleistungen in Niedersachsen erleben, z. B. in den Bereichen Frauengesundheit, psychische Gesundheit und Pflegeheime. Mithilfe von Gesundheitsdaten und KI sollen Probleme beim Zugang und der Nutzung von medizinischen Leistungen datenschutzkonform untersucht werden. Durch eine intensive Einbindung von Verbänden, Verwaltung und Selbsthilfeorganisationen soll ein hohes Maß an gesellschaftlicher Partizipation gewährleistet werden. Am Ende sollen Strategien und Empfehlungen für die Gesundheitspolitik in Niedersachsen entwickelt werden. Für ihr Projekt “Health Equality, Migration and Diversity: Data Driven Assessment of Disparities, Digitization and Diversity in Prevention, Medical Care and Nursing Care in Lower Saxony (HUMAN-LS)” stehen 3,9 Mio. Euro zur Verfügung.
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Eine Krankheit. Ein Wirkstoff. Und für Kinder die Hälfte – dieses alte Medizinerdogma gilt nicht mehr.
Niedersachsens Wissenschaftsminister Falko Mohrs
Ein Online-Lern-Tool mit dessen Hilfe Fachkräfte im Gesundheitswesen für Gender- und Diversitätsthemen sensibilisiert werden können, das ist das Ziel der Forschenden der MHH und der hochschule21 (Buxtehude). Das Tool soll Wissen über Ungleichheiten und Diskriminierung aus verschiedenen Perspektiven (z. B. Alter, Geschlecht, Behinderung, Herkunft) vermitteln und so eine gerechtere medizinische Versorgung fördern. Außerdem wird geprüft, ob solche Lernangebote verpflichtend in die Ausbildung integriert werden können. Das Projekt “Respect and acceptance of diversity in health care – Development, implementation and evaluation of an online learn tool for health professions (DiversiOn)” erhält 623.000 Euro.
Forschende der MHH und der Universitätsmedizin Göttingen erhalten für ihr Projekt “Primary care for trans people in Lower Saxony: Using health care data, experience with care and participatory approaches to enhance medical care and medical education (trans-power)” 1.397.900 Euro. Darin wollen sie die Datenbasis über den Zugang von trans Personen zu Gesundheitsleistungen (Allgemeinmedizin, Pädiatrie, Gynäkologie) insbesondere mit Blick auf Ungleichheiten und Diskriminierungserfahrungen verbessern. Dies gilt beispielsweise für die zögerliche Inanspruchnahme präventiver Gesundheitsleistungen, psychotherapeutischer Angebote oder die Berücksichtigung kardiovaskulärer Risiken durch Hormontherapien. Auf Basis der Ergebnisse sollen Handlungsempfehlungen für die medizinische Primärversorgung sowie für die bessere Abbildung von trans Personen in der medizinischen Versorgung in den Lehrplänen der gesundheitlichen Studiengänge diskutiert und entwickelt werden.
Forschende der Universität Oldenburg (UOL) wollen anhand chronischer Rückenschmerzen und Arthritis die verfügbare Datenlage darüber verbessern, inwieweit die Verschreibung von Medikamenten oder die Inanspruchnahme von Physiotherapie u.a. durch Alter, Geschlecht, sozioökonomischen Status oder regionale Gesundheitsversorgung beeinflusst werden. In dem Projekt “Inequalities in the management of chronic musculoskeletal pain (InPain)” soll zudem untersucht werden, welche Rolle Ärzt:innen bzw. die Kommunikation zwischen Patientin und Ärztin bei der Entscheidung über die subjektiv geeignete Therapieform spielt. InPain wird mit 325.500 Euro gefördert.
Forschende der UOL wollen mit ihrem Projekt “Living with Endometriosis – Testing an Arts-based Design for Health Services Research (LEAH)” die Frauengesundheit bei Endometriose verbessern, einer häufigen Ursache für ungewollte Kinderlosigkeit. Viele Betroffene leiden unter starken Schmerzen und erhalten oft spät oder falsche Diagnosen. Anstelle der üblichen gesprächsbasierten Ansätze wie Interviews – die wegen des gefühlten Tabus rund um Menstruationsschmerzen an ihre Grenzen stoßen – soll mit einem kunstbasierten Ansatz (Töpferei) sowie durch verstärkte Gruppengespräche versucht werden, die diagnostische und therapeutische Betreuung der Betroffenen nachhaltig zu verbessern (Fördersumme: 590.800 Euro).
Wissenschaftler:innen der Ostfalia, des OFFIS und der UOL untersuchen in “Digitally supported diversity and culturally sensitive nursing care on nutritional intake (NUTRI-SENSE)”, wie Ernährung und Flüssigkeitszufuhr in Pflegeeinrichtungen durch mehr interkulturelle und diversitätssensible Ansätze verbessert werden können (Fördersumme: 1.374.000 Euro). Wegen der hohen Arbeitsbelastung der Pflegekräfte bleibt oft zu wenig Zeit für Tests und die individuelle Pflegeplanung. Besonders für Menschen mit Migrationshintergrund sollen mithilfe digitaler Hilfsmittel individuelle Ernährungsbedarfe analysiert und Empfehlungen für die Langzeitpflege entwickelt werden.
“‘Eine Krankheit. Ein Wirkstoff. Und für Kinder die Hälfte’ – dieses alte Medizinerdogma gilt nicht mehr. Die Erkenntnis, dass jeder Mensch verschieden ist und individuelle medizinische Bedürfnisse hat, verlangt nach zukunftsweisenden Antworten. Innovationen unserer Forschenden tragen dazu bei, die medizinische Versorgung in Niedersachsen gezielt weiterzuentwickeln und jeder Patientin und jedem Patienten eine maßgeschneiderte Therapie zu ermöglichen”, erklärt Falko Mohrs, Niedersächsischer Minister für Wissenschaft und Kultur.